Das Scheitern und der Erfolg liegen zuweilen nicht nur nahe beieinander, nein, ich behaupte sogar, beim Bergsteigen bedingen sie sich gegenseitig! Warum?
Ich glaube, jeder Mensch, der nicht im Tiefschlaf durchs Leben wandelt oder durch Illusionen geistig trübe geworden ist, hat schon gemerkt, dass er durch Erfolge nicht wirklich weiter gekommen ist, sondern durch Leiden und Scheitern. Eigentlich kalter Kaffee, aber heute, wo alles schneller, höher & schöner werden muss, wo der Ehrgeiz schier krankhafte Formen angenommen hat, darf man das schon mal wieder erwähnen.
Draussen regnet es ununterbrochen, seit Stunden. Ich sitze hier vor dem Compi und lasse meine Gedanken schweifen. Als Bergsteigernovizchen schon hat sich mir der Bianco ins Hirn gebrannt. Diese weiss geschwungene Linie, das ewige Leben versprechend und ebenso Sinnbild des Grauens, der reissenden Abgründe. 1999 hatte ich eine private HTW ausgeheckt, Zustieg zur Tschiervas über den entsprechenden Piz, vom Hotel Roseg. Dann Umkehr oben am Eselsgrat des Roseg, irrtümlich waren wir neben der Abseilpiste hochgeklettert. Tags darauf hab ich den Schwanz schon auf dem Vadret da Tschiervas eingezogen, auf dem Weg zur Eisnase, mein Vater war unterwegs zur letzten Reise. Patrik, mein Copin, kämpfte sich tags darauf bei Hudelwetter mit einem Guide über die Himmelsleiter, ich leckte indes meine Wunden zu Hause. Die nächsten Jahre war ich zwar öppe die im Gebiet, aber mit einfacheren Zielen, den Bianco auf Unbestimmt verschoben.
Anlässlich von Chrigels Klettertour in den Aiguilles Rouges de Chamonix hat mich Carole angerufen, ob ich nicht anschliessend mit ihr was im Gebiet machen wolle, wenn wir schon mal da unten seien. Dolent, Argentière oder Chardonnet - das Projekt steht bald. Nur Petrus ist nicht einverstanden. Im Fönfenster vom letzten Samstag vergnügen wir uns dann mit Chrigel in der Namenlosen Kante am Bockmattli. Warum nicht gleich weiter südostwärts?
Dienstags dann ruckeln wir mit dem roten Bähnli das Bündtnerland hoch, überall rote Bänder an den Oberleitungen - aha! Aufnahme der Berninastrecke in das Unesco Weltkulturerbe! - und fast jeder Bahnhof eine Baustelle, das muss ja eine fette Subvention gegeben haben. Ich übernachte zum ersten mal im neuen Hüttenanbau der Tscheirvas, Carol ist noch nie in meinem Kesel des Scheiterns gewesen. Im Gehäuse ist es gemütlich, vielleicht drei Dutzend Bergsteiger, das Personal motiviert und gut gelaunt (nur mit dem Essen hat was nicht geklappt).
Das Idealprojekt beinhaltet eine Eingehtour auf den Scerscen und dann die Überschreitung des Piz Bernina mit Abstieg nach Boval, da Buchelis Modelle für Freitag eine Front ankündigen und ich nicht bei Nebel und Schneetreiben von der Marco e Rosa nach Morteratsch absteigen will. Die Taktik ist simpel: zuerst das Schwerere, dann wird das Leichtere zum Genuss.
SCERSCEN - EISNASE
Bewusst starten wir erst um halb Sechs, wir kehren ja in die Hütte zurück. Ich hasse das blöde Rumirren im Grümpel bei Nacht. Mir fallen dauernd Erinnerungsfetzen vom Weg zum Roseg von vor 9 Jahren ein, das passiert aber erst unterwegs. Der Piz Umur liegt backbords und wir steuern den Sattel P.3273 an, wo ein Schneefirst auf den Grat zur Eisnase hochführen soll. Von näher sieht der Kerl bedrohlich steil aus, wie war das mit dem Zurückliegen? Potz Donner, als wir oben stehen, hat der Schneefirst einem offenen Kamin Platz gemacht. Das frisch ausgeaperte Felsdreieck wird wohl erst in ein paar Jahren freundlicher werden, falls überhaupt. Die direkte Kante übersteigt meine bescheidenen Kletterkünste, also versuchen wir es links davon in der steilen NO-Wand. Als ich nach ca. 15m jede zweite Schuppe schier in der Hand halte wie Glücksteine, breche ich ab. Nächster Versuch im Kamin. Verdammt senkrecht, das Ding, aber nach links zieht eine Rampe hoch, oben eine Abseilschlinge. Wenn der Fels nur nicht so glatt und abwärts geschichtet wäre! Im breiten Spalt, den ich hoch gehe, wackelt auch jeder zweite Block bedrohlich. Rechts von mir ein steiler Riss mit brüchigem Fels, wäre machbar, aber ich will keinen Sturz riskieren. Der Fels weist keinerlei Steigeisenkratzspuren auf, das hat uns von Anfang an misstrauisch gemacht. Carole kommt nach und bevor wir es ausprechen ist uns beiden klar, dass dieser Zug abgefahren ist - zuviel Zeit verloren.
Wir ziehen uns auf den flachen Gratrücken zum Piz Umur zurück, um Distanz zu gewinnen und - viel wichtiger - dort scheint die Sonne. Hier sehen wir nun auch die Spuren des Aspirantenkurses, die hier sonntags oder montags am Werke waren. Sie sind nordöstlich des Umurs aufgestiegen und haben die steile Felsstufe über einen 45°-Firnhang weiter hinten erstiegen, oben wird die Müsik dann flacher. Wir steigen wieder runter aufs westliche Becken des Vadret da Tschiervas und begutachten noch die Westflanke. Sollte auch möglich sein, ist allerdings sehr plattig und den Steinen nach, die auf dem Gletscher liegen, wohl nicht ganz ungefährlich. Übrigens, als wir noch auf dem Sattel waren, ist aus unserem Couloir ein böser Brocken die Aufstiegsspur runter gefahren und erst auf dem flachen Teil zum Stillstand gekommen. Leider ist es für den Roseg nun auch viel zu spät und der Himmel zieht sich zu. Wir kehren zu Kuchen und Suppe gemütlich in die Hütte zurück.
Fazit für Gloisi: ich sollte das nächste Mal am Vorabend das Hüttenpersonal detaillierter befragen!
HIMMELSLEITER
Als Carole zum Schuhraum rauskommt, stehen schon Einige unschlüssig draussen rum. Ich habe gerade meine Zigi beendet, also los (untypisch für mich). Sofort haben wir einen Rattenschwanz hinter uns. Nach dem Abzweiger zum Roseg/Scerscen gehe ich beim Bächlein Nr. 437 unfreiwillig ne Abkürzung hoch und die nachfolgende Gruppe überholt - Gott sei Dank, das blöde Rennen ist für mich beendet! Nun aber rennen wir diesen hinterher, um den Anschluss nicht zu verlieren, was dann aber doch im grobblockigen Gerümpel vor Betreten des Tschiervasgletscher passiert. Wir stolpern irgendwie den immer wieder sichtber werdenden Stirnlampen vor uns hinterher und stehen plötzlich vor der Zunge des Gletscherarms, der vom Morteratsch und Fuorcla Prievlusa runter zieht. Neben uns stehen Chris und sein Gefährte, unsere Tischgenossen vom Vorabend - freudige Überraschung!
Behufen und aagschirre, nach dem Zungenbuckelchen tagets und im ebenen Kesselchen zwischen Piz Prievlus und dem Felskopf P.3574 wird alles plötzlich übersichtlich. Diese 2.5-stündige Nachtscheisse hat mich wütend gemacht und Carole will unbedingt den Gipfel. Gloisi zeigt überraschende Entschlossenheit.
Der neue "Klettersteig" zur Fourcla ist ausgezeichnet ausgebaut, dumm nur, dass da ein weiteres Bächlein drüber rinnt. Sofort nasse Handschuhe - immer noch besser, als wenn er vereist ist, was er vor zwei Tagen noch war! Trotzdem gibt es immer noch Bergsteiger, die meinen, der Weg sei gemacht worden für den Fall, dass die NW-Firnflanke vom Felskopf 3574 blank sei! Die haben wohl noch nie was von der Klimaerwärmung gehört. Vor 5 Jahren hab ich vom Gipfel des Morteratsch gesehen, wie dort ein eisenbahnwagen! grosser Felsklotz genau über die Aufstiegsspur gedonnert ist.
Wir stehen in der Sonne auf der Fuorcla, vor uns das Felsbastiönchen mit den letzten drei Seilschaften des halben Dutzend, die heute den Bianco auf dem Programm haben. Vor uns wieder Chris und sein Copin. Psychologisch gesehen ist das der letzte Point of return.
Die folgende Kletterei ist äusserst anregend, der Fels super und das ganze fast plaisirmässig ausgebohrt. Etwa auf halber Höhe zieht ein Band links raus in den steilen, bovalseitigen Firnhang. Wieder behufen und wieder treffen wir auf Chris & Co. Carole findet ein richtiges Bänkchen, wenn da Jemand mal Kissen hochbringen würde?!
Der Firnteil ist wunderschön, aber ich habe die Nase meist nahe am Schnee. Schliesslich gehts steil aufwärts, die Spur auf dem Schneidchen ist teilweise vereist und wir sind die letzten der ganzen Bande, das gibt Druck. Ich sage mir im Stillen, diese Schlangenline wird erst das zweite oder dritte mal wirklich genüsslich.
Nach eineinhalb Stunden ist der "Spass" vorbei und wir stehen auf dem Piz Alv. Seit Betreten des Firndaches begleitet uns ständig ein steifes Brieschen. Ich werde dafür mit grandiosen Tiefblicken entschädigt. Wer das liebt wie ich, kommt auf dieser Führe voll auf seine Kosten. Der flache Gratteil bis zur Scharte ist mit gutem Trittschnee einfach und genau dort sind die Andern, Chris gerade am Abseilen. Ich lasse Carole am HMS runter und seile dann auch ab, es ist mir zu verschneit zum abklettern und käme dann plötzlich Eis darunter...
Der folgende berühmte Turm (eigentlich sind es mehrere, vor und nach dem Grossen) fordert einiges an Arbeit. Wir sind froh um die gute Absicherung. Auch das Schlussflänkchen ist in der oberen Hälfte vereist, also nochmals sichern. Noch ist das Heu nicht ganz geführt, aber wenig später stehen wir endlich auf dem Gipfel. Küsschen und erste Entspannung.
Zu meiner grössten Freude zieht eine super Spur durch die Ostflanke der Spedla unter die Abseilstelle. Ab hier sind wir im Nebel, laufen schon fast wieder fröhlich den Südhang runter in flaches Fahrwasser. Querab an steuerbord taucht silhuettenhaft die Marco e Rosa auf, die allerdings geschlossen ist. Der Hüttenwart musste ins Tal, da sein Sohn krank sei. Das hat wohl nicht Allen gefallen.
Mit raumem Kurs über die Bellavista Terrasse, in Nebelschwaden und gelgentlichem Graupeln erreichen wir die Fortezza. Das hat sich gezogen. Ein letztes Mal Abklettern, nochmals behufen, das flache Stück zum P.3186 ist blank, dann auf schwacher Wegspur vorbei an bizarren Steinmännern und einem Kreuz ohne Gipfel zum vergletscherten Flänkchen, das zur Isla Pers führt. Und was sehen wir dort unten? Zwei Menschen auf dem Gletscher, einer mit oranger Hose - Chris!
Ich fotografiere fast nicht mehr, aber die Bilder, das Licht brennt sich ein. Die Sonne drückt tief im Westen durch die Wolkendecke. Meine Stimmung ist immer fast ausserirdisch nach so langen Touren, besonders in der Dämmerung. Und genau dann stehen wir endlich am Fuss der Isla. Bei dem Licht wirkt das Gelände wesentlich wilder als am Tag. Wir beschliessen, den Gletscher nicht mehr zu queren und zur Cam. da Boval hoch zu steigen, sondern auf seiner Zunge das Tal raus zu laufen, um dann den breiten Weg zur Station Morteratsch zu finden. Wir haben ihn dann auch gefunden, 100m vor dem Bahnhöfchen!
Im Hotel brennt hinter einem einzigen Fenster noch Licht und auf Carole's Rufen öffnet doch tatsächlich der Nachtportier. Eine warme Douche und zwei gute Betten mit Daunenduvets, der Nachtspatziergang hat sich gelohnt.
Carole, ich gratuliere Dir ganz herzlich für Deinen ersten 19-Stünder, Willkommen im Club der Verrückten!
Text und Bild: Rolf Glauser
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