Tré la Tête - auf Panoramafahrt im Reiche des Monarchen
Aiguille Tré la Tête – das tönt ja schon ein wenig drümmlig, oder? Und tatsächlich, Kopfweh kann’s dort oben schon mal geben, denn das Güpfi kratzt keck an der 4000-er Grenze. Aber eben nur fast, zum richtigen 4000-er fehlen ein paar Meter. Und daher ist’s dort oben noch recht ruhig. Erstaunlich ruhig eigentlich, wenn man bedenkt, dass der Gipfel – beziehungsweise die Gipfel, denn es sind vier dieser drümmligen Nadeln – im Mont Blanc Gebiet stehen, und das erst noch an erstklassiger, unverbaubarer Aussichtslage, direkt vis à vis seiner Majestät.
Wenn man in Freney aus dem Auto steigt – wir sind in Italien, daher wird man fast zwangsläufig so anreisen – erschlägt es einem fast. Unglaublich, diese Wucht, das sind Dimensionen, die schon fast an die Bergriesen des Karakorum oder des Himalaya erinnern. Die Türme und Pfeiler, die dem Mont Blanc zustreben, haben einen derartigen Schwung, da wirkt der Salbit Süd grad wie ein Nachmittags-Spaziergang. Noch ist von Bergeinsamkeit nicht viel zu spüren, aber das ändert sich schlagartig ein paar Schritte nach der Bar du Lac Combal, die wir mit der Aussicht auf ein noch langes Tagwerk schnöde verschmähen. Vielleicht hat die erwähnte Abgeschiedenheit dieser Aiguilles auch mit der dürftigen Infrastruktur zu tun. Eine Hütte fehlt, nur eine Biwakschachtel à l’italienne – Schachtel ist die zutreffende Bezeichnung! – bietet Unterschlupf. Beim Schneeschmelzen bleibt Zeit, die Gedanken laufen zu lassen: stellt euch vor, jenseits des Mont Banc, auf der Jubel-Trubel Seite, wären alle Hütten gesprengt, die Aiguille de Midi Bahn abgerissen. Was für ein grossartiges Abenteuerland, das würde manchen Flug nach Patagonien erübrigen! Doch wir sind nicht die einzigen Retrotheoretiker, auch bei der Anti-Halbpensions-Fraktion scheint sich dieser Logenplatz herumgesprochen zu haben, und wir fühlen uns ein wenig an das Pfadilager-Spiel erinnert: wie viele Leute bringt man in einen VW-Käfer. Mit dem Unterschied, dass hier auch noch Steinböcke zum Mitspielen drängen. Doch die anderen Mitspieler sind diszipliniert und halten sich an die Regeln: wer zu spät kommt, der schläft draussen. Und so geniessen wir trotz U-Boot Feeling eine angenehme Nacht in den Strubelidecken, an denen sich vielleicht schon Bonatti die Füsse gewetzt hat.
Nach einem sauber gestaffelten z’Morgen (auch à l’italienne) dann endlich wieder einmal die grossartige Stimmung eines nächtlichen Aufbruchs: Das Knirschen der Steigeisen im harten Firn, langsam erweitert sich die Welt vom kleinen Kegel der Stirnlampe um einen Horizont nach dem anderen, die wie Scherenschnitte in die zarten Farben der Dämmerung gezeichnet sind. Unsere Aiguilles werden mit jedem Gipfel etwas anspruchsvoller, ein sanftes Crescendo. Während auf den ersten Gipfel, die Aiguille Orientale, ein breiter, wenn auch schon recht steiler Firnrücken hinaufführt, ist der Grat zum Hauptgipfel schon ein paar Fussbreiten schmaler. Diesen Gipfel teilen wir noch mit einer anderen Seilschaft, dann sind wir alleine für den Rest des Tages. Ein weiterer Grund dafür ist vielleicht auch die spärliche Führerliteratur. Für die Überschreitung, wie wir sie durchführen, finden sich nämlich nur vage oder gar widersprüchliche Angaben. Anschauen und selber entscheiden! So sind auch in unseren übererschlossenen und –dokumentierten Bergen noch kleine Abenteuer möglich, auch in mässigen Schwierigkeiten. Das führt mich zu einem weiteren Retro-Gedankenspiel: wie sähe unsere Alpenwelt aus, wenn Routeninformationen nur noch mündlich, am Hüttentisch oder in der Schmeiselin-Klatschecke weiterverbreitet würde? Alle Plaisir-Führer sind eingestampft, Online-Routenportale sind nur noch in kiryllischer Schrift zugelassen. Doch Halt, schnell runter in tiefere Lagen, bevor ich gänzlich auf der Retro-Fundi-Wolke abhebe. Der direkte Abstieg von unserer dritten Nadel nach Norden in den Gletschersattel sieht doch etwas gar stotzig aus. Wir entscheiden uns für den W-Grat. Zu Beginn ist der sehr kompakt und steil, und drängt uns nach links in eine düstere Rinne. Gut gefrorene Resten des August-Schnees erlauben uns, das Hindernis zügig zu umgehen. Das war wohl mal die „einfache Schneerinne“, von der im alten Vallot salopp die Rede war. Tempi Passati. Wir queren sobald wie möglich zurück zum Grat, der Fels ist überraschend solid. Oberhalb des nächsten Abbruchs queren wir in die Nordflanke und sind dann doch noch froh um ein paar gute Eisschrauben am Gurt. Dann gilt’s nur noch, jeweils den richtigen Durchschlupf zu finden in den verschiedenen Stufen des wilden Lée Blanche Gletschers, und schon turnen wir über die warmen Felsen zum Echelette Biwak, einer Original-Hundehütte für Bergsteiger. Ha, diese Tour wäre als Inspirationsfahrt für kreativitäts-überbordende Hüttenarchitekten zu empfehlen. Eine tierische Begegnung haben wir noch zum Abschluss: eine grosse Herde Steinböcke schaut uns ganz gelassen beim Abrutschen zu. Beim Lac Combal, mitten unter kreischenden holländischen Touristen, Kinderwagen, feisswadigen Nonnas und durchgestylten Parkplatzwanderern, sind wir endgültig in der Zivilisation zurück. Schön wars, 2 Tagen oben und ohne.
Christian Preiswerk
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